Das richtige Maß?

Der grundlegende Gedanke der Biodynamie ist Jahrtausende alt, eine der vier Kardinaltugenden und heute so aktuell wie selten zuvor: jener der Mäßigung.

Vom geheimnisvollen Orakel in Delphi ist ein Spruch überliefert, der im Gegensatz zu anderen, meist schwer entschlüsselbaren Weissagungen recht einfach klingt: »Nichts im Übermaß«. – Ein kurzer Satz nur, der gleichermaßen Feststellung ist wie Appell und der den Menschen dazu dienen sollte, ihr Verhältnis zu den Göttern (zu Natur und Schöpfung) und damit ihre Stellung in der kosmischen Ordnung richtig einzuschätzen. Einige wenige der antiken Mythen genügen jedoch zur Illustration, dass sich der Mensch zu allen Zeiten schwertat, dieses „richtige“ Maß zu finden, und so steht dieser scheinbar so simple Satz »Nichts im Übermaß« seit Jahrtausenden im Mittelpunkt der so grundlegenden und stets aktuellen Frage nach dem „richtigen“, „maßvollen“ Leben des Menschen auf der Erde.

Auch viele Philosophen dachten seit den Anfängen der Ethik, dem systematischen Nachdenken über das moralisch „richtige“ Handeln des Menschen, über den Begriff des »Maßes« und der »Mäßigung« nach. Bei Platon wird die das „rechte Maß“ beinhaltende „Besonnenheit“ zu einer seiner vier Kardinaltugenden (Tapferkeit, Gerechtigkeit und Klugheit sind die anderen). Seit dem 19. Jahrhundert spielte jedoch diese „Besonnenheit“ (wie die Tugendethik generell) in der Philosophie keine besonders wichtige Rolle mehr: Die Wissenschaft, der technologische und wirtschaftliche Fortschritt ließen die Möglichkeiten des „modernen“ Menschen grenzenlos erscheinen. Fragen nach den Grenzen seines Handelns stellte kaum jemand – und wenn doch, wollten sie wenige hören.

Wenn wir uns heute, ausgelöst durch den bereits deutlich spürbaren Klimawandel, über die Grenzen des Wachstums und damit des menschlichen Handelns den Kopf zerbrechen, dann geht es im Kern darum, eben jenes „richtige Maß“ wiederzufinden – in unserem Verhältnis zur Natur wie auch untereinander. – Und genau darin liegt einer der wesentlichen Gründe, warum wir uns vor bald 20 Jahren dazu entschlossen haben, Manincor und unsere Art der Landwirtschaft auf eine neue, eine entschieden naturverträglichere Grundlage zu stellen.
Worin zeigt sich dieses „Maßhalten“, diese „Mäßigung“ in Manincor konkret? Wo erschließen sich Möglichkeiten, weniger zu tun, weniger zu nehmen, natürlich Vorhandenes so zu ordnen, dass es von selbst Prozesse in Gang setzt und Kräfte reguliert?

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Der Weg der Biodynamie.
Man spricht vom Maß – und meint auch Fülle: ein glückseliges Leben, das Wesen als Ganzes erfassend. Der Weg dorthin beginnt mit der Zufriedenheit, damit zu sehen was ist und es zu achten. Er beginnt mit der Frage an uns selbst, wie zufrieden wir sind, hier am Kalterer See mit Blick auf das Wasser wohnen und wirken zu können. In dieser Kulturlandschaft, inmitten der Früchte der Natur zu leben, ist tägliche Inspiration. Daraus erwächst das Anliegen, dieses Land so zu bewirtschaften, dass eine Symbiose zwischen Mensch und Natur entsteht. Auch, um etwas Gesundes, Intaktes an die nächste Generation weitergeben zu können.

Tief in den Boden führt dieser Weg, denn: Bodenfruchtbarkeit und Bodenleben sind essenziell, damit Reben und Trauben gut genährt werden. Einsaaten zwischen den Rebreihen und Kompost aus eigenen Ressourcen verbessern die Humusschicht. Die Pflanzen kommen in die richtige Balance. Wir verstehen uns dabei als Diagnostiker der Gesundheit unserer Weingärten und lassen, wo immer möglich, der Natur ihren Lauf.

Die Stärke der Biodynamie ist es, die Pflanzengesundheit durch homöopathische Gaben von Pflanzenextrakten im Rhythmus der Natur zu stimulieren. Tee-Auszüge von Brennnessel, Kamille und Ackerschachtelhalm stärken die Pflanzen. Im Zyklus der Jahres- sowie Tageszeiten und abgestimmt auf die Mondphasen werden Präparate von Hornmist und Hornkiesel ausgebracht, die als Katalysator wirken: Der Weingarten bleibt mit allem Leben darin in Balance.

Diese Balance im Wachstum der Rebe wirkt sich direkt auf die Qualität der Trauben aus. Die Schalen unserer Trauben sind robust und geschmacksintensiv. Eleganz und Feinheit der Weine zeugen davon: Von La Manina bis zum Lieben Aich, vom Keil bis zum Castel Campan – sie alle tragen dieselbe Handschrift. Sie machen Freude, stehen – im richtigen Maß – für erstklassigen Trinkgenuss und sind wunderbare Speisenbegleiter.
Wertvolle Mithilfe leisten dabei auch unsere Tiere: Schafe und freilaufende Hühner, Insekten und Bienen, Sing- und Raubvögel, die in unseren Weingärten leben. Auch sie sind wichtiger Teil der natürlichen Kreisläufe, die sie auf organische Weise mitformen.

Man spricht vom Maß - und meint auch Fülle: ein glückseliges Leben, das Wesen als Ganzes erfassend.

Maßvolles Bauen.
Jeder Bau ist ein Eingriff in die Landschaft. Beim Neubau des Weinkellers in Manincor im Jahr 2004 war ein Leitgedanke deshalb der maßvolle Umgang mit Ressourcen und Elementen und eine Form von Architektur, die auf Dauer und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Sein Raumprogramm ist so konzipiert, dass Transportwege kurz und effizient sind. Wo möglich, wird die natürliche Schwerkraft genutzt. Eine doppelwandige Bauweise reguliert die für einen Weinkeller so wichtige Temperatur. Energie wird mithilfe einer Hackschnitzel-Anlage produziert, die mit Holz aus dem eigenen Wald befeuert wird. Der Weinkeller liegt unterirdisch und ist bedeckt mit lebendiger Erde und einem Weingarten. Seine Konzeption schonte die historische Bausubstanz des 400 Jahre alten Ansitzes ebenso wie die Landschaft ringsum.

Heute ist der „neue“ Weinkeller Teil des Manincor-Gewebes, das uns und das Leben und Arbeiten hier ausmacht. Eine innige Verbindung von Tradition und maßvollem Fortschritt, mehr als ein bloßer Ort des Transits für unsere Weine. Die tiefen Narben des Neubaus haben sich geschlossen. Sichtbar bleiben sie – und schön, wie die goldgefüllten Risse in der japanischen Kunst der Keramikreparatur.

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Die Kunst der Reduktion.
Als biodynamischer Betrieb arbeiten wir bei der Weinbereitung mit dem Prinzip der Spontanvergärung. Sanft werden die Trauben durch Nutzung der Schwerkraft verarbeitet. Katalysator für die Vergärung sind die natürlichen Hefen auf den Traubenschalen. Unsere Erfahrung hilft dabei, diesen Prozess individuell zu begleiten und sanft zu steuern.

Es ist der Wein, der uns am Herzen liegt und der im Glas sowie später im Mund Genuss bereiten soll. Die Flasche, das Etikett, der Korken – alles ein Vorspiel für diesen Genuss. Doch auch darüber denken wir nach, wenn wir uns immer weiter zurücknehmen wollen. So haben wir bereits die Zinnkapseln der Flaschen durch Papierbanderolen ersetzt. Derzeit arbeiten wir daran, das Gewicht der Weinflaschen zu senken.

Reduktion und das Zulassen natürlicher Prozesse sind die obersten Maximen auf unserem Weingut. Es gibt jedoch Bereiche, wo man eingreifen und statt weniger mehr tun muss, um Zufriedenheit und ein maßvolles Miteinander zu ermöglichen: Die Art und Weise, wie wir Manincor als Arbeitsplatz für Menschen gestalten, ist ein Mehr an Menschlichkeit im Umgang miteinander. Wer hier arbeitet, ist eingebunden in eine Gemeinschaft und wird als ganzer Mensch wahrgenommen, mit allen Bedürfnissen und Talenten.
Dieselbe Haltung bestimmt auch unser Verständnis vom Erfolg des Unternehmens. Nicht um fortwährendes Wachstum soll es gehen, sondern darum, die Qualität der Arbeit, der Trauben, des Bodens, der Zusammenarbeit im Team und – natürlich! – des Weins kontinuierlich zu verbessern.

So kehren wir am Ende wieder zurück zur Philosophie und einem der seltenen Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, bei dem der Begriff des „Maßes“ im Zentrum des Nachdenkens über das Menschsein stand: zu Albert Camus. Was man bei diesem 1960 viel zu früh tödlich verunglückten Nobelpreisträger für Literatur, der vor allem für seine Gedanken zum „Absurden“ bekannt ist, kaum vermuten würde: Eine wesentliche Möglichkeit, dieser „absurden Welt“, in der es keine endgültige Wahrheit und keinen endgültigen Sinn des Dasein gibt, zu entkommen, bestand für ihn in der Erfahrung der Natur, „sie setzt dem Irrsinn der Menschen ihre ruhigen Himmel und ihren Sinn entgegen“, schreibt er in Helenas Exil, einem seiner berühmten Mittelmeer-Essays. – Es ist kein Zufall, dass Camus offen Bezug nimmt auf das antike Denken, von dem schon am Beginn die Rede war, und an die darin mitbedachte Ethik des Maßes. Und er erinnert durch seine dem sinnlichen Leben zugewandte Philosophie auch daran, dass mit dem Spruch „Nichts im Übermaß“ des Orakels in Delphi ein weiterer in enger Verbindung steht: „Erkenne dich selbst!“.

Vom „maßvollen“, durch das Erleben und die Beobachtung der Natur inspirierten Handeln zur Selbsterkenntnis ist es also nur ein kleiner Schritt: Wie in einem Spiegel, in den wir täglich blicken, können wir uns darin auch selbst erkennen und suchen jeden Tag aufs Neue nach unserem „richtigen“ Maß. Und finden es in den großen natürlichen Zusammenhängen ebenso wie in den kleinen Details des menschlichen Miteinanders.

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Marie Busch

09.03.2023 - 21:46 Uhr

Ich habe letztens das erste Mal von Hackschnitzeln gehört. Dabei ist es gut zu wissen, dass es dafür auch ganze Anlagen gibt. Das war mir neu, danke für diese Info.

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